„Und, ist es dir schwergefallen?“

500 Tage Nüchternheit. 500 Tage, das sind 16 Monate und 14 Tage. Ich weiß das so genau, weil ich immer noch Protokoll führe: jeder nüchterne Tag wird im Kalender mit der Farbe Grün markiert. Es ist wunderbar zu sehen, wie der grüne Anteil in diesem Kalender und damit in meinem Leben immer größer wird. Und ich bin sehr stolz darauf. Dennoch ist er im Vergleich zum roten Anteil – der für 30 Jahre Alkoholmissbrauch steht – verschwindend klein. Wäre ich noch Alkoholiker, würde mir dieses Bild Angst machen. Insofern, dass mein Leben irgendwann endet und dessen Bilanz eindeutig vom Stigma „Alkoholiker“ geprägt ist. 

 

Seitdem ich mit dem Trinken aufgehört habe, hat sich aber viel an meiner Einstellung geändert. Ich wurde von einem sehr negativ zu einem positiv denkenden und optimistischen Menschen. Heute denke ich mir, dass der Weg das Ziel ist, und ich kann mir sogar irgendwo am Horizont ausmalen, dass ich 30 nüchterne Jahre schaffen kann. Wie auch immer: „one day at a time“ – so das Motto einer weltbekannten Selbsthilfegruppe. 

 

Nun zum eigentlichen Thema und der Frage, die mir immer häufiger gestellt wird. Vorausgeschickt sei, dass ich im Grunde mit meinem (ehemaligen) Alkoholproblem offen umgehe. Und die Menschen, die davon erfahren, gehen damit auf ganz unterschiedliche Weise um. Eine Frage aber kommt wie das sprichwörtliche Amen im Gebet: 

„Und, ist es (= das Aufhören) dir schwer gefallen?“

Abgesehen davon, dass mich – als (ehemals) Süchtigen – diese Frage wegen ihrer Naivität im ersten Moment nahezu sprachlos macht, ist sie tatsächlich nicht so eindeutig zu beantworten. 

Nach 500 Tagen Nüchternheit könnte ich behaupten, dass es eine leichte Übung war und mir das Aufhören nicht schwergefallen ist. Schließlich habe ich es „geschafft“, ich bin nüchtern und Alkohol ist kein Thema mehr in meinem Leben. 

Aber wie man weiß, blendet der Mensch schlechte Erinnerungen aus. Wenn ich ehrlich bin und an die Anfangsphase im November 2021 zurückdenke, kommen sehr unangenehme Gefühle hoch. Ich hatte damals panische Angst und extremen Stress, mein Leben zukünftig ohne den „Schutzschild“ Alkohol verbringen zu müssen. Ich malte mir Schreckensbilder von Situationen aus, bei deren Bewältigung mir der Alkohol bis dahin „beigestanden“ war. Diese erste Panik-Phase, in der ich mich komplett schutzlos fühlte, dauerte in etwa drei Monate. Später kam noch dazu, dass ich mir selbst sehr leidtat. Rückblickend muss ich sagen, dass in dieser Phase die Rückfallgefahr riesig war. Der Alkohol war immer DAS Mittel gegen meine Ängste gewesen und schließlich hatte ich in dieser Zeit nichts als Angst. 

Allein der letzte Absatz sollte die Frage, ob es mir schwergefallen ist, erschöpfend beantworten. Dazu kommt in meinem Fall aber noch ein weiterer Aspekt. Bevor ich die Chance, die sich mir am 4. November 2021 bot ergriff und mich für ein gänzliche neues Leben entschied, versuchte ich bereits mit einer anderen Methode den Alkohol aus meinem Leben zu verbannen. Unter Anleitung meiner Ärztin und mit Unterstützung meiner Psychotherapeutin (beide sind meine persönlichen „Heldinnen“) habe ich es mit „kontrolliertem Trinken“ versucht. Insgesamt habe ich vier Jahre gekämpft und musste schlussendlich doch aufgegeben. Rückblickend gesehen, war es den Versuch wert, allerdings kam ich zu einer Erkenntnis: hätte ich jemals kontrolliert trinken können, hätte ich nie ein Problem mit Alkohol bekommen. Dieser Zug war damit schon vor 30 Jahren abgefahren.

Spätestens jetzt sollte die Frage beantwortet sein:

JA, ES IST MIR SCHWERGEFALLEN. Verdammt schwer. Selbstverständlich!

Mein Hirn wurde 30 Jahre lang so programmiert, dass es automatisch zur einfachsten Lösung für meine Probleme griff. In meinem Fall zu Alkohol für mein Problem Angst. Dieser Programmcode hat sich eingebrannt und ich werde ihn nie ganz löschen können. Allerdings kann ich versuchen Schritt für Schritt ein zweites Programm zu schreiben. Ein besseres Programm, ein Programm mit weniger Fehlern. Und ich habe dafür noch viel Zeit.

 

P.S.: Das Titelbild steht für „Teetotal“, was auf Deutsch abstinent bedeutet.


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Kathleen
Kathleen
1 Jahr zuvor

Hallo About Quitting, das beschreibt genau meine Gefühle. Ich habe auch 30 Jahre getrunken und einen Monat später als Du geschafft aufzuhören. Nach mehreren Anläufen. Kontrolliert trinken habe ich 2018/2019 versucht. Ohne Erfolg! Ich arbeite an mir, jeden verdammten Tag und habe zwei Apps, die meine Nüchternheit zählen. Ich denke, dass ich nicht mehr rückfällig werde, aber es ist sehr sensibel zu betrachten und ich bin nicht stressresistent, gar nicht. Ich muss mich im Zweifelsfall zurück ziehen. Ich spüre das aber und nehme meine Gefühle ernst. Liebe Grüße Kathleen


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